Tempelhof
[Eingangsseite] [Berlin] [Neukoelln] [Tempelhof] [Kreuzberg] [Brandenburg] [Landesweit] [Mitte/Kreuzberg/Tiergarten]
Eingangsseite
Lagerstandorte
Standesamt
BerlinerInitiative
MailingListe
Literatur
Archiv
Autor

Ich hatte im Oktober 2000 Gelegenheit, die Geburtenbücher des Standesamtes Tempelhof von Anfang 1943 bis Mitte 1945 einzusehen. Ich danke der Leiterin des Standesamtes, Frau Aßmann, daß sie mir die Bücher zugänglich gemacht und einer Veröffentlichung der Ergebnisse zugestimmt hat.

Insgesamt werden hier drei Texte stehen:
* Die Geburtenbücher des Standesamtes Tempelhof (siehe unten)
* Die Sterbebücher des Standesamtes Tempelhof (noch zu schreiben)
* Eine Liste der mittlerweile bekannt gewordenen
Lagerstandorte in Tempelhof

 

Zwangsarbeit in Tempelhof. Die Geburtenbücher des Standesamtes als aufschlußreiche Quelle
Bernhard Bremberger

1. Zwischen Januar 1943 und Kriegsende wurden über 180 Kinder von Ausländerinnen in Tempelhof geboren, 130 von ihnen in Tempelhofer Lagern. Wir können davon ausgehen, daß die meisten damals hier lebenden Ausländer Zwangsarbeiter waren. Sie werden zwar nicht so bezeichnet, doch wurden beispielsweise viele von ihnen in den Büchern des Standesamtes “Ostarbeiter” genannt.

2. Nicht immer ist die Herkunft der Mütter eindeutig geklärt, doch läßt sich feststellen: Mindestens 117 Mütter waren Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion, 19 Mütter kamen aus Frankreich, 14 aus Belgien bzw. Holland, 10 vom Balkan (Serbien / Kroatien). 8 Polinnen, 4 Italienerinnen sowie zwei Frauen aus dem “Protektorat” - sie alle bekamen in Tempelhof ihre Kinder.

3. Was bedeutet dies im Hinblick auf die Tempelhofer Gesamtbevölkerung? Unter 556 Einträgen für das Jahr 1944 sind 100 dieser Geburten registriert, dies bedeutet: 18% der damals in Tempelhof registrierten Geburten betreffen Kinder von Zwangsarbeiterinnen. Im Januar 1945 sind 43 Geburten registriert, davon vier Kinder von “Ostarbeitern” (3 Ehepaaren) drei Französinnen und das Kind einer Polin. Alle diese Kinder kamen in Lagern zur Welt bzw. in einer Ostarbeiterbaracke.
Also: Von 1943 bis Kriegsende war mindestens jeder sechste in Tempelhof registrierte Säugling das Kind einer Zwangsarbeiterin.

4. Französinnen, Belgierinnen und Frauen aus dem Balkan (Serbien / Kroatien) hatten die Chance, zur Entbindung in das St.-Joseph-Krankenhaus zu kommen. Die Trennung in weniger schlecht behandelte “Westarbeiterinnen” und in “Ostarbeiterinnen”, die auf der tiefsten Stufe der Skala angesiedelt wurden, funktionierte auch im Krankenhaus: “Ostarbeiterinnen” und Polinnen wurden dort in der Regel nicht zur Geburt aufgenommen, ebensowenig die Internierten aus Tempelhofer Lagern. Ob die Entbindungen innerhalb der Lager in speziellen Entbindungsbaracken stattfanden, muß im übrigen noch geklärt werden.

5. Auch die Betreuung und weitere Pflege der Kinder nach der Geburt ist noch nicht geklärt. Bei mindestens fünf der Kinder ist vermerkt, daß sie kurz nach der Geburt verstarben. Dies läßt aber noch keine allgemeinen Aussagen über das Schicksal der Zwangsarbeiterkinder in Tempelhofer Lagern zu, weitere Forschungen sind nötig.

6. Die Geburtenbücher benennen 26 Lager in Tempelhof. Dabei ist - und das sei hier extra betont - bei der Adresse ausdrücklich “Lager” vermerkt. In der Regel sind die Lager nach Firmen benannt. Über die Hälfte, genau 15 dieser 26 Lagerstandorte sind bisher noch nicht publiziert worden, sie sind der Wissenschaft also neu! Die verstreuten Informationen zu den einzelnen Lagern sind im Anschluß zusammengefaßt.

7. Ferner wurden im St.-Joseph-Krankenhaus schwangere “Westarbeiterinnen” aus folgenden Lagern aufgenommen:

  • Alt-Moabit, Lager, Siemensschule
  • Charlottenburg, Wilmersdorfer Str., Franzosenlager
  • Großbeeren (Teltow), Bahnhofsgebäude
    sowie eine Schwangere aus
  • Guben (Niederlausitz), Gemeinschaftslager Königspark.
    Zumindest die beiden Berliner Lagerstandorte waren bisher noch nicht veröffentlicht.
  • 8. Schließlich brachten auch Ausländerinnen aus anderen Berliner Bezirken, bei denen ganz “normale” Wohnadressen angegeben sind, in diesem Krankenhaus ihre Kinder zur Welt - insbesondere “Westarbeiterinnen” bzw. Italienerinnen. Auch bei deren Anschriften kann es sich möglicherweise - das ist im einzelnen zu recherchieren - um Lager oder Ausländer-Sammelunterkünfte handeln. So lebten in der Kreuzbergstr. 30 beispielsweise mindestens drei Italienerinnen, die 1944 und 1945 im St. Joseph-Krankenhaus Kinder bekamen. Im Tempelhofer Geburtenbuch ist diese Adresse nicht als “Lager” bezeichnet, wohl aber fand sich bei weiteren Recherchen die Bestätigung dafür, daß es sich hier um ein “Lager” handelte.

    Lagerstandorte aus den Geburtenbüchern des Standesamtes Tempelhof 1943 bis 1945

    • Marienfelde, Albanstr., Lager D 9 der Firma Daimler Benz, Werk 90
      1945 wurden aus diesem Lager vier Geburten gemeldet, Belgier und “Ostarbeiter” sind dort nachgewiesen.
    • Marienfelde, Buckower Chaussee, Ostarbeiterlager der Fa. Daimler Benz AG
      1944 und 1945 sind hier mindestens 17 Kinder von “Ostarbeiterinnen” geboren. Gelegentlich waren die Mütter mit ihren Ehemännern zusammen im Lager interniert. Die Verwaltung des Lagers scheint ihre Besonderheiten zu haben: Im Juni 1944 wurden alleine elf Geburten aus dem gesamten vergangenen Jahr gemeldet. Ausdrücklich ist dabei vermerkt, daß die Meldung durch die Werkschwester “mit Genehmigung der unteren Verwaltungsbehörde” erfolgte - eine Notiz, die ich sonst in keinen Büchern aus Standesämtern gesehen habe, und die mir bisher unerklärlich ist. Wenige Tage vor Kriegsende wurden wiederum sechs Geburten gemeldet; alle lagen maximal vier Wochen zurück. Dies läßt den Schluß zu, daß wahrscheinlich in anderen Monaten ähnlich viele Kinder zur Welt kamen, die aus welchen Gründen auch immer dem Standesamt nicht gemeldet wurden. Vielleicht blieben die Informationen bei eben diesen unteren Verwaltungsbehörden liegen. Die Zahl der Tempelhofer Zwangsarbeiterkinder dürfte demnach wohl noch wesentlich höher liegen.
    • Buckower Str. 4, Lager der Firma Fritz-Werner AG
      Im Januar 1945 brachte eine Französin im Lager ein Kind zur Welt.
    • Chausseestr. 232, Gemeinschaftslager Krebs
      Im Februar 1945 brachte eine Polin im Lager ein Kind zur Welt.
    • Berliner Str., Unterkunftslager 2, Weser-Flugzeugbau
      Eine Holländerin aus diesem Lager durfte im Frühjahr 1944 im St. Joseph-Krankenhaus ein Kind zur Welt bringen. Da wenig vorher ebenfalls eine “Westarbeiterin” dort ihr Kind gebar und als deren Adresse Berliner Str., Weser-Flugzeugwerke angegeben ist, liegt die Vermutung nahe, daß es sich vielleicht um das gleiche Lager handeln dürfte.
    • Columbiastr., Gemeinschaftslager "Weserflug" (vermutlich identisch mit dem Ostarbeiterlager der “Weser” Flugzeugbau in der Columbiastr.)
      Ab Mitte 1943 erblickten dort mindestens 20 Kinder das Licht der Welt, meist von Ehepaaren aus der Sowjetunion. Ein einziges Mal konnte ein Ehepaar im St. Joseph-Krankenhaus ihr Kind zur Welt bringen, ansonsten fanden die Geburten im Lager statt. Auffallend ist, daß für den Sommer 1943 mehrere Ehepaare aus dem Kreis Woroschilograd genannt sind, als deren Beruf “Landarbeiter” angegeben ist.
    • Gemeinschaftslager "Lilienthal" der Deutschen Lufthansa, Alter Flughafen (vermutlich identisch mit Columbiastr., Gemeinschaftslager Lufthansa, Alter Flughafen und Lilienthallager)
      Ab Ende 1943 bekamen mehrere Frauen aus dem Balkan im Lager Kinder.
    • Columbiastr., Tor 9, Gemeinschaftslager "Richthofen"
      Eine Frau aus Schitomir bekam Ende 1943 im Lager ein Kind; dem Standesamt gemeldet wurde dies von einer im Lager lebenden Hebamme.
    • Daimlerstr. 111, Ostarbeiterlager der Firma Fritz Werner AG
      Dort bekamen 1943 mindestens 5 “Ostarbeiterinnen” ihre Kinder. Einmal ist als Geburtsort angegeben: Hauslazarett der Fa. Fritz Werner. Ob sich dieses Lazarett im Lager befand oder sonstwo auf Werksgelände, ist noch nicht geklärt.
    • Gottlieb-Dunkel-Str. 50/52, Gemeinschaftslager der Fa. Krupp-Druckenmüller GmbH
      Für Ende 1944 ist belegt, daß dort ein Ehepaar aus der Sowjetunion ein Kind bekam.
    • Kurfürstenstr. 54, Ostarbeiterlager der Deutschen Reichsbahn
      Ab Ende 1944 kamen dort mindestens fünf Kinder zur Welt, meist von gemeinsam internierten Ehepaaren.
    • Lichtenrade, Marienfelder Str. 5, Gemeinschaftslager der Deutschen Reichsbahn
      Für 1944 und 1945 sind dort 8 Geburten verzeichnet, auch hier waren es meist Ehepaare aus der Sowjetunion. Noch wenige Tage vor Kriegsende starb ein Kind, zwei Tage nach seiner Geburt.
    • Oberlandstr. 36/40, Ostarbeiterlager der Fa. Elektrolux
      Ende 1943 bekam ein Ehepaar aus der Ukraine im Lager ein Kind.
    • Mariendorf, Ringstr., Lager I der Askania
      1944 und 1945 wurden in diesem Lager 20 Kinder geboren, alle von “Ostarbeiterinnen”, meist lebten beide Eltern im Lager, mindestens 3 Ehepaare hatten 1943 im Lager geheiratet.
    • Mariendorf, Rathausstr. 33, Lager III der Askania-Werke
      Ende 1944, Anfang 1945 wurden hier 6 Kinder geboren: vier von “Westarbeiterinnen” aus Frankreich bzw. Belgien, zwei polnische Paare bekamen je ein Kind sowie eine “Umschülerin” aus dem “Protektorat”.
    • Ringbahnstr. 32/34, Lager der Firma Paul Linke
      Kurz vor Kriegsende gebar eine Mutter aus Feodosia im Lager ihr Kind. Eine Französin konnte 1944 ihr Kind im St. Joseph-Krankenhaus zur Welt bringen, ihre Adresse Ringbahnstr. 32 war nicht als “Lager” bezeichnet.
    • Säntisstr., Ecke Königsgraben, Lager D.4 Ost der Firma Daimler Benz
      1943 und 1944 kamen hier 13 Kinder zur Welt, die Mütter waren “Ostarbeiterinnen”, bei dreien lebte auch der Ehemann im Lager.
    • Rennbahnstr., Lager D 4 Süd der Firma Daimler Benz (andere Schreibweisen: An der Rennbahn, Lager D 4 Süd oder nur Lager D 4 Süd Daimler Benz)
      Im Herbst 1945 bekam eine “Ostarbeiterin” aus diesem Lager im anderen Daimler-Lager D.4 Ost ein Kind, Anfang 1945 konnte eine Französin im Lagerlazarett entbunden werden, später bekam eine Polin im Lager ein Kind. Demnach lebten hier alleinstehende bzw. von ihren Ehemännern getrennte Frauen unterschiedlicher Herkunft.
    • Lichtenrade, Steinstr. 4, Gemeinschaftslager der Reichspostdirektion
      1944 und 1945 brachten hier mindestens 12 “Ostarbeiterinnen” ihre Kinder zur Welt; die Hälfte der Frauen war zusammen mit den Ehemännern interniert.
    • Mariendorf, Str. 78, Gemeinschaftslager der Firma Stock & Co.
      Im Frühjahr 1943, als zwei “Ostarbeiterinnen” ihre Kinder im Lager gebaren, hieß es einfach noch “Russenlager Stock & Co.” Später erblickten drei weitere Kinder im Lager das Licht der Welt, unter den Eltern - ebenfalls aus der Sowjetunion - ein Ehepaar.
    • Mariendorf, Chausseestr. 32, Lager der Fa. Stock & Co.
      Eine Frau aus dem “Protektorat” kam Mitte 1944 zur Entbindung ins St. Joseph-Krankenhaus.
    • Lichtenrade, Hilbertstr., Reichsbahnlager
      Anfang 1944 ist dort die Entbindung einer Frau aus dem Reichsbahnlager Pankgrafenstr. in Berlin-Karow gemeldet.
    • Marienfelde, Wilhelm-von-Siemens-Str. 50, Lager S.A. VII/1 der Firma Siemens Apparate und Maschinen GmbH
      1944 und 1945 brachten zwei Frauen aus Kroatien, die in diesem Lager gemeldet waren, ihre Kinder zur Welt, 1944 wird die eine Baracke im Lager als Geburtsort genannt, 1945 ein anderes Lager, nämlich das folgende:
    • Fritz-Werner-Str., Gemeinschaftslager
      Näheres über dieses Lager ist aus den Unterlagen des Standesamtes nicht ersichtlich, und auch sonst ist es mir bisher unbekannt.
    • Zastrowstr. 163, Gemeinschaftslager der Fa. Ormig AG
      Im Juni 1943 bekam ein ukrainisches Ehepaar im Lager ein Kind
    • Marienfelde, Lichterfelder Ring, O.T. Baracke, Gärtnerei Hempel
      Im November 1944 bekam ein Ehepaar aus der Sowjetunion in der O.T. Baracke ein Kind.

    Ein erster Blick in die Geburtenbücher des Standesamtes hat sehr umfangreiche Informationen über die Geschichte der Zwangsarbeit in Tempelhof und über das Lagersystem innerhalb des Bezirks ergeben. Hochinteressante Informationen wurden zutrage gebracht. Auch in anderen Unterlagen der Bezirke - so ist zu vermuten - dürfte sich umfangreiches Material finden, welches einerseits dazu hilft, die Geschichte der Zwangsarbeit zu erforschen und welches andererseits möglicherweise noch unmittelbar den Überlebenden zu Gute kommen und zu ihrem Recht verhelfen kann.

    [Eingangsseite] [Lagerstandorte] [Standesamt] [BerlinerInitiative] [MailingListe] [Literatur] [Archiv] [Autor]