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Weser-Flug Rezension

Nikolaj G. S. musste in Berlin-Tempelhof bei der Weser Flugzeubau Gesellschaft Zwangsarbeit leisten. Nach den in Arolsen ueblichen Bearbeitungszeitraeumen bekam er vom Internationalen Suchdienst folgenden Bescheid:

   “Die Adresse der Flugzeugbaugesellschaft "Weser" in Berlin Tempelhof ist uns nicht bekannt. ...
   Unterzeichnet: I. Taubert (Archivleitung)"

Herr im Himmel, lass Kompetenz ueber Nordhessen regnen! Oder wenigstens das folgende Buch:

F.-Herbert Wenz: Flughafen Tempelhof. Chronik des Berliner Werkes der "Weser" Flugzeugbau GmbH Bremen. Bau der Kriegsflugzeuge Ju 87-Stuka und Fw 190 1939-1945.
Lemwerder (Stedinger Verlag) 2000. ISBN 3-927 697-24-9. 159 S. DM 39,90.

Daraus ist beispielsweise zu entnehmen (S. 122), dass "die 'Weser'-Flugzeugbau GmbH zu den vier groessten Flugzeugbau-Unternehmen des Deutschen Reiches" gehoerte. Die GmbH wurde 1934 gegruendet, und im gleichen Jahr nahm sie in Berlin und Bremen die Produktion auf. 1936 wurde das Werk Lemwerder in Betrieb genommen. Ein Foto (S. 26) zeigt die Hauptzufahrtsstrasse nach Lemwerder, vollgestellt mit Ju 86-Flugzeugen. Und das waehrend des Krieges, in Kuestennaehe - ein neuer Standort im Hinterland musste her.

Da passte es, dass der Berliner Flughafen Tempelhof gerade neue Hallen bekommen hatte, ein 1,3 Kilometer langes Gebaeude, das wir heute noch bewundern koennen. In diesen Hallen sowie in Teilen des Alten Flughafens wurden ab 1940 bis Kriegsende Flugzeuge produziert. Vor allem die beruechtigten STUKAs Ju 87. Schon vor dem Krieg war Weserflug der einzige Lizenznehmer, und insgesamt stellten sie 5.215 dieser Bomber her.

Aber was soll ich von einem Buch halten, das wiederholt vom "legendaeren Sturzkampfbomber Ju 87" (S. 7, 10) redet, aus dem der Stolz spricht ueber den "legendaeren Begriff 'STUKA', ... ein Name, der Angst und Schrecken verbreitete, denn seine ... Praezisionsbombenabwuerfe hinterliessen bisher nicht fuer moeglich gehaltene Zerstoerungen" (S. 42), und das den Begriff "Fronterprobung" fuer den Einsatz der STUKAs im Spanischen Buergerkrieg unkritisch uebernimmt (S. 44)?

Was soll ich von einem Buch halten, welches als Motto einen "Arbeitsspruch" aus der Tempelhofer Montagehalle zitiert:
   "Mit Reden wird nicht viel geschafft
   zur Staerkung unsrer Arbeitskraft. ..."?
Das Buch klingt wir die Erfolgsbilanz eines Firmengruenders und Geschaeftsfuehrers. Und tatsaechlich lesen wir von Herrn Dipl.-Ing Fritz Feilcke, der von Anfang an fuer die Technische Gesamtleitung sowie den Aufbau des neuen Werkes zustaendig war (S. 15), der bis 1945 als Hauptbetriebsfuehrer und Technischer Leiter der Weserflug GmbH vorstand und dessen Lebensweg von "hohe(n) Auszeichnungen und Anerkennungen, darunter auch das grosse Bundesverdienstkreuz" begleitet ist. Feilcke arbeitete an einer "historischen Dokumentation der 'Weser' Flugzeugbau GmbH (1934-1945)" (S. 122), die er "noch kurz vor seinem Tode zu einem weiterverwendbaren Abschluss" bringen konnte. (S. 157). Diese Chronik ist Grundlage fuer das vorliegende Buch. Und so liest es sich auch.

Fuer uns interessant sind einige im Buch verstreute Informationen (S.  57, 59, 61, 115 f, 119) und sogar ein eigenes Kapitel (S. 132-140), woraus Naeheres ueber den Einsatz von Zwangsarbeitern hervorgeht. Am 20. April 1944 beispielsweise waren  von den 4.151 Arbeitern des Tempelhofer Werkes 2.103 Auslaender, also mehr als die Haelfte. Fuer bis zu 1.200 Auslaender aus den westlichen Laendern hatte man das Verwaltungsgebaeude der Gagfah in Schmargendorf gemietet; dieses Westarbeiterlager befand sich in der Hindenburgstr. 63. Fuer 1.300 Osteuropaeer wurde ein Barackenlager auf dem Flughafengelaende in der Columbiastrasse errichtet. Plaene und Fotos dieses Lagers sind in dem Buch dokumentiert.

In dem Buch spiegelt sich die Firmenperspektive in Reinkultur: So begruendet der Autor die Notwendigkeit zum "Einsatz von auslaendischen Mitarbeitern" zum einen dadurch, dass immer mehr Mitarbeiter zur Wehrmacht eingezogen wurden, zum anderen durch die vom Reichsluftfahrtministerium geforderten Produktionszahlen und schliesslich durch die noch dramatischere Personalsituation nach Beginn des Russlandfeldzuges (S. 134 f). In Frage gestellt wird die Zwangsarbeit nicht.

Ferner weist der Autor beispielsweise darauf hin, dass "in den erhalten gebliebenen Statistiken nur die produktiv taetigen Zwangsarbeiter genannt bzw. in Diagrammen dargestellt [sind] ... Viele der unproduktiv eingesetzten Zwangsarbeiter hatten keine berufliche Vorbildung oder eigneten sich nicht fuer eine direkte oder indirekte Arbeit am Flugzeug. Diese wurden dann als Hilfsarbeiter fuer andere Arbeiten herangezogen."  Er veroeffentlicht eine Tabelle, welche beweisen soll, wie laenderabhaengig die Leistungsfaehigkeit der Auslaender eingeschaetzt wurde (S. 137): Im Vergleich zu einem deutschen Mitarbeiter mit 100 % Leistungsfaehigkeit werden den Polen nur 90 % zugebilligt, den Franzosen 85 %, den Russen 70 % und den Italienern ganze 55 %. Schliesslich betont der Autor die besondere Verantwortung und die Problematik, mit denen sich die Betreuer und Vorgesetzten auseinanderzusetzen hatten (S. 1135): "Zeitweise waren es Angehoerige von ueber zwanzig Voelkergruppen ... Jedes Volk hatte seine eigene Sprache, seine eigene Mentalitaet und seine eigenen Sitten und Gebraeuche."

Die "Problematik des Einsatzes von Zwangsarbeitern" ist "ein Stueck Zeitgeschichte, ueber die man ungern spricht". Dass es bei vielen Firmen so ist, das wissen wir. Doch macht auch der Autor (Ingenieur bei einem Weserflug-Nachfolgebetrieb und spaeter bei Daimler-Chrysler Aerospace) den Eindruck, als sei dies nicht sein Thema. Das entsprechende Kapitel hat eine Alibi-Funktion in dem ansonsten technische und logistische Leistungen der Kriegsindustrie lobenden Buch. In den Archiven existieren - so Wenz - "so gut wie keine oder nur unvollstaendige Aufzeichnungen". Immerhin sind einige Antraege der Abwehrbeauftragten von Weserflug zur Verhaftung von Zwangsarbeitern dokumentiert (S. 138 f).

Ferner weiss der Autor, dass die Ernaehrung "auch in Tempelhof bei weitem nicht zufriedenstellend war. Verbitterung und Widerstand gegen Weserflug und die Bewacher waren die Folgen. Ob die Beschaffung von zusaetzlichen Nahrungsmitteln moeglich war oder die schlechte und mangelhafte Ernaehrung zu gesundheitlichen Schaeden fuehrte, die das spaetere Leben beeintraechtigten, ist nicht bekannt." (S. 140)

Da kann ich Herrn Wenz aufgrund eigener Forschungen nachhelfen: Ab Mitte 1943 erblickten dort mindestens 20 Kinder das Licht der Welt, meist von Ehepaaren aus der Sowjetunion. Ein einziges Mal konnte ein Ehepaar im St. Joseph-Krankenhaus ihr Kind zur Welt bringen, ansonsten fanden die Geburten im Lager statt. Auffallend ist, daß für den Sommer 1943 mehrere Ehepaare aus dem Kreis Woroschilograd genannt sind, als deren Beruf "Landarbeiter" angegeben ist. Mindestens 15 Todesfaelle aus dem Lager Weserflug bzw. Columbiastrasse sind registriert, darunter sieben Kinder, die innerhalb des Lagers verstarben, und als deren Todesursache meist angegeben ist: Ernaehrungsstoerung, Kreislaufschwaeche, Allgemeine Lebensschwaeche.

Das Standesamt Tempelhof kennt uebrigens noch mindestens ein weiteres Weserflug-Lager: Ein "Unterkunftslager 2" der Weser-Flugzeugbau in der Berliner Strasse in Tempelhof. Dort lebten "Westarbeiterinnen", welche ihre Kinder im benachbarten St. Joseph-Krankenhaus zur Welt bringen konnten. Dieses "Unterkunftslager 2" habe ich in dem Buch vergeblich gesucht.

Die Fotos S. 66 und 67 zeigen Arbeiter und Arbeiterinnen und sind unterschrieben mit "Die anstehenden Schweissarbeiten wurden von Frauen und Maennern durchgefuehrt" sowie "Aus kriegsbedingten Gruenden wurden immer mehr Frauen in der industriellen Fertigung eingesetzt". Marina Schubarth hat mich auf ihren Verdacht aufmerksam gemacht, dass es sich bei diesen Fotos um Bilder von Zwangsarbeitern handelt, bei denen das OST-Abzeichen wegretuschiert wurde. Aufgrund dieser Vermutung habe ich schon Lust, mir doch einmal die Originale anzusehen, die sich im vom Autor mitbetreuten Archiv der Daimler-Chrysler Aerospace AG befinden.

Trotz aller Kritik sind die kurzen Abschnitte ueber Zwangsarbeit fuer uns von Bedeutung, bieten sie doch einen Ueberblick ueber Zwangsarbeit in eine der groessten deutschen Flugzeugwerke an einem symboltraechtigen Ort, dem Flughafen Tempelhof. Bleibt zu wuenschen, dass der Autor in seinen weiteren Arbeiten ueber die Flugzeugproduktion ueber die Firmenposition von 1943 hinausgeht und seinen Zugang zu den Archiven nutzt, um daraus ausfuehrlicher ueber die Geschichte der Zwangsarbeit zu schreiben.

Versehentlich wurden mir uebrigens zwei Exemplare des Buches geliefert. Mit Einverstaendnis des Verlages geht ein Exemplar an Nikolaj G. S.

Bernhard Bremberger

Rezensiert von Bernhard Bremberger für die Mailing Liste NS-Zwangsarbeit, 2. Juli 2001.

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